A review by wran
Eine überflüssige Frau by Rabih Alameddine

5.0

Der Roman erstreckt sich über den Zeitraum von ca. 1,5 Tagen im Leben von Aaliya, die 72 Jahre alt ist und allein in einer Wohnung in Beirut lebt. Nicht wirklich allein. Sie lebt dort mit vielen Büchern, die ihr Gesellschaft leisten. Ja, man kann das so ausdrücken, denn die Bücher übernehmen für Aaliya die Rolle von Freunden, Freundinnen, Lehrern, Ratgebern, Tröstern.... Nur die Musik schafft es, eine annähernd große Rolle in ihrem Leben zu spielen. Aaliyas Existenz ist für Beiruter Verhältnisse absolut einzigartig oder aus der Sicht ihrer Familie eher beklagenswert. Nach einer desaströsen kurzen und kinderlosen Ehe bleibt sie alleinstehend und findet eine Anstellung als Verkäuferin in einem Buchladen. Dort ist notorisch wenig los, so dass sie sich mit den Büchern beschäftigt. Es dauert lange, bis sie die Bücher, die sie liest - Aaliya musste früh die Schule verlassen - auch versteht. Doch sie ist intelligent, sprachbegabt und eine hervorragende Autodidaktin. Irgendwann beginnt sie damit, die Bücher, die sie liest, ins Arabische zu übersetzen. Jedes Jahr ein neues Buchprojekt.
Ich habe mich nicht sofort in dieses Buch verliebt, der Anfang war ein wenig holprig. Alameddine lässt seine Protagonistin in der ersten Person erzählen und der Leser verbringt diese anderthalb Tage ganz eng mit der alten Frau, ihren Gedanken und Erinnerungen. Die schienen mir zuerst etwas zu direkt, zu zynisch, zu geistreich für eine alte Frau aus einfachsten Verhältnissen. Je mehr ich jedoch über ihr Leben erfahren habe, desto glaubwürdiger wurde ihre Stimme. Und es war ein Vergnügen, mit dieser rauen, aber durchaus herzlichen alten Dame meine Zeit zu verbringen.
Sie hat mich auf einen Proustschen Spaziergang durch das Beirut der Gegenwart und Vergangenheit mitgenommen. Das Hauptthema ihres Lebens ist sicher die Einsamkeit, das Gefühl des Andersseins, das in ihren Reflexionen über Kindheit, Freundschaft, Krieg und Humanität zum Ausdruck kommt. Sie kommentiert das Verhältnis von Ost und West, berichtet über ihre Begegnung mit der klassischen Musik und über ihre Unterschichtenfamilie, teilt Erinnerungen an den Bürgerkrieg und kehrt immer wieder in ihre Wohnung zu den Büchern zurück. Jede Lebenssituation, jedes intensive Gefühl lassen sie an ein bestimmtes Buch oder einen bestimmten Autor denken: Pessoa, Sebald, Nabokov, Magris gehören zu ihren Lieblingsautoren, um nur einige wenige zu nennen. Es ist unglaublich, wie viele neue Lesewünsche ich aus der Lektüre mitgenommen habe. Boshafte Seitenhiebe über Autoren, Politiker, Bücher oder Geschmäcker im allgemeinen haben mich natürlich besonders amüsiert.
Ich denke, es ist klar geworden, dass "Eine überflüssige Frau" kein actionbepacktes Buch ist: Der Besuch ihres groben Halbbruders, der versucht, die uralte Mutter zu ihr abzuschieben, und ein Wasserrohrbruch sind die Hauptereignisse der beiden Tage (vielleicht sogar der letzten Wochen)! Eine zutiefst kritische, menschliche und durchaus warmherzige Reflexion über die Einsamkeit, das Leben und die Literatur.